Ostrom 1 & 2
Mutter fährt mich auf ihrem Klappfahrrad zum Kindergarten. Nachdem mich Mutter im Kindergarten abgeliefert hat, fährt sie in die Produktion. Eine Halle aus Fertigteilen mit einem Flachdach, in der Radios hergestellt werden. Arbeiten an elektrischen Bauteilen, die vor allem von Frauen verrichtet werden. Keinerlei Gesundheitsschutz. Mutter stellt Lötverbindungen her. Die immer gleichen Handgriffe. Einmal im Jahr kommt der Schlagersänger Achim Menzel mit dem Auto angefahren, um für die Frauen zu singen. Stralsund liegt in einer landschaftlich reizvollen Umgebung. Die Stadt ist bekannt für ihre Brücke und ihren Bahnhof. In ihrer Mitte gibt es einen Kern, der langsam zerbröselt und einen Seehafen, der von Küstenmotorschiffen angelaufen wird. Ziemlich rostige Kähne, vor allem aus der Sowjetunion, auf deren Luken Baumstämme liegen. An seiner Landseite wird der Hafen von einem Zaun umfasst, an seinen Toren stehen Posten. An der Hand meines Vaters gehe ich an einem Kanal entlang, der den Hafen und seine Zäune von der Stadt trennt. Mir machen eine Pause an einem Kiosk. Von dort aus kann man die Fähren beobachten, mit denen die Fässer und Kisten zur Insel Hiddensee gebracht werden und nach Rügen. Aus der Bockwurst spritzt Fett an eine Scheibe. Vater zahlt mit Münzen aus Leichtmetall. Wir gehen weiter an den Häusern und den Lücken. Im Jungfernstieg ist einer der Transporter mit dem Holz aus Sibirien in einen Lada gekracht. Der Fahrer des Wagens steht neben den Wrack, sucht nach den passenden Worten und Streichhölzern. Aus dem Wagen tropft Benzin auf das Pflaster aus Kupferschlacke, durch ein Loch im Blech kann man in den Kofferraum hineinschauen. Der Lastwagenfahrer steht neben dem Lastwagen und raucht, ein Polizist schreibt etwas in ein Heft hinein. Ich bin nicht besonders gerne im Jungfernstieg. Der Kinderzahnarzt des Zahnmedizinischen Dienstes befindet sich dort. Beim letzten Besuch hatte die Zahnärztin darauf verzichtet, die Bohrer zu wechseln. Sie hatte mit den blutigen Bohrern weitergebohrt. Mutter sagt, dass das nicht sein könne. Ich weiß es aber genau, weil ich es gesehen habe. Und weil es meine Zähne waren, an denen herumgebohrt wurde. Gegenüber des Zahnmedizinischen Dienstes für Kinder und Jugendliche befindet sich in einem kleinen Ladenlokal das Lebensmittelgeschäft Neubauer, das von Frau Neubauer selbst betrieben wird. Frau Neubauer ist schon etwas älter, wie auch ihr Laden schon etwas älter ist. Ein Verkaufstresen aus Holz, das an den Ecken rund ist. Ihre Waren schafft Frau Neubauer mit Wartburg Kombi ran. Als ein Reifen platt ist, wechselt ihr Vater ohne viele Worte das Rad. Vieles wird stillschweigend erledigt. Ich stehe jedes Mal daneben, beobachte alles ganz genau. Vater hat kein eigenes Auto, auch kein Motorrad oder Moped. Die meisten Männer haben nur ein eigenes Fahrrad. Sie fahren damit zur Arbeit, womit die Werft gemeint ist, auch im Winter. Das Wort Werft wird mit dem Wort Arbeit gleichgesetzt. Fahrradwege gibt es keine, alle Wege führen in die Produktion. Gefahren wird, wo gerade Platz ist